v. l. n. r.: Maria Tschudi (Co-Leiterin von Einfach Zürich), Reto Bühler (Leiter vom Friedhof Forum. Museum über Leben und Tod) und Tasnim Baghdadi (Co-Leiterin vom Migros Museum für Gegenwartskunst)

Wie können Museen Vermittlung neu denken? Wie bildet Vermittlung eine Brücke zwischen Institutionen und Publikum – und schafft dabei Raum für Austausch, Partizipation und gesellschaftliche Transformation? Maria Tschudi (Co-Leiterin von Einfach Zürich) und Tasnim Baghdadi (Co-Leiterin vom Migros Museum für Gegenwartskunst) haben sich mit Reto Bühler (Leiter vom Friedhof Forum. Museum über Leben und Tod) getroffen, um darüber zu sprechen, warum Vermittlung so viel mehr ist als blosse Wissensvermittlung.

Reto Bühler: Im Friedhof Forum beschäftigen wir uns mit gesellschaftlichen Tabuthemen wie Suizid, was nach der Kremation bleibt, Hinterlassenschaften Verstorbener und Trauer. Dabei geht es nicht nur um den Tod, sondern vor allem um das Leben – deshalb verstehen wir uns als «Museum über Leben und Tod» und nicht als reines Friedhofsmuseum. Unsere aktuelle Ausstellung «Trauern. Wenn Raum und Zeit verloren gehen.» widmet sich der Trauer, einem schwer greifbaren Gefühl. Künstler*innen haben dafür Werke geschaffen, die die Flüchtigkeit und Tiefe dieses Themas erfassen. Ergänzt wird die Ausstellung durch Lesungen, Talks und weitere Formate, um das Thema vielseitig zu beleuchten und über unsere drei Räume im Friedhof Forum hinaus sichtbar zu machen.

Maria Tschudi: «Einfach Zürich» gibt es seit 2019 – als Gast in Räumen des Landesmuseums Zürich. Es ist erstaunlich, dass Zürich kein eigenes historisches Museum hat. Unsere grösste Herausforderung war, ein Publikum aufzubauen – von null an, mitten in der Coronazeit. Heute leiten Michèle Wannaz und ich das Museum als Co-Leiterinnen und betreuen neben der Dauerausstellung ein breit gefächertes Rahmenprogramm. Das bedeutet Verantwortung und Freiheit zugleich. Unser Thema, Zürich und seine vielseitige Geschichte, bietet unendliche Inspiration, was die Arbeit erleichtert. Bei der Vermittlung setzen wir gezielt auf eine Anbindung ans Heute, um Geschichte nicht isoliert zu betrachten, entwickeln kreative Ideen und setzen auf Kooperationen, zum Beispiel mit dem Friedhof Forum für eine kommende Ausstellung. Ohne Vorgaben von zu erreichenden Besucherzahlen gehen wir bewusst Risiken ein und brechen mit traditionellen Wegen der Geschichtsvermittlung. Wie etwa beim Projekt mit der Schauspielerin Fabienne Hadorn, die Zürich auf ihre eigene Weise erzählte, quer durch die Stadt. Solche Ansätze sind in bestimmten Kontexten noch selten.

Tasnim Baghdadi: Die Vermittlung als Methodik hat sich über Jahrzehnte Freiräume erkämpfen müssen und hat dabei oft Marginalisierung erlebt. Sie ist häufig Vorreiterin neuer Ansätze, steht aber zugleich ständig unter Druck. Die Frage bleibt, wie viel Entscheidungsmacht und Mitspracherecht hat die Vermittlung wirklich? Tendenziell wird sie immer noch als nachgelagerter Bereich am Rande von Ausstellungskonzeptionen behandelt, statt sie von Anfang an in die Planung einer Ausstellung einzubinden, was natürlich auch Gegenreaktionen hervorruft. Dennoch beeindruckt mich die Entwicklung der Vermittlung: Sie geht heute weit über klassische Rundgänge und Workshops hinaus hin zu transformativen Ansätzen.

Maria Tschudi: Genau. Oft sitzen Vermittler*innen gar nicht erst am Planungstisch. Sie bekommen später ein Dossier und sollen dann «etwas für Schulklassen machen». Bei uns ist das anders. Die Vermittlungsarbeit war von Anfang an genuiner Bestandteil von «Einfach Zürich», das ganzjährige Rahmenprogramm, für alle Altersstufen, ist zentral.

Tasnim Baghdadi: Das kann je nach personellen Ressourcen herausfordernd sein.

Maria Tschudi: Die Vermittlung machen wir nicht ausschliesslich selbst. So konzipierten wir etwa ein lustiges Quiz-Format mit Perlen aus diversen Film- und Fotoarchiven, das Moderator Thomas Wyss, natürlich in enger Absprache mit uns, regelmässig für uns durchführt. Fabienne Hadorn entwickelt neben ihrer Stadtführung nun auch noch einen theatralen Abend mit Talkshow-Elementen für uns. Und bei einem anderen Führungsformat «Mit Gäst*innen durch die Ausstellung» laden wir prominente Zürcher*innen ein, die die Stadt geprägt haben, und gehen mit ihnen durch die Ausstellung. Dabei wählen wir Objekte aus, die zu den Gästen passen – fast wie ein Interview im Gehen. Die Herangehensweise ist offen, persönlich, aber auch politisch. 

Die Vermittlung als Methodik hat sich über Jahrzehnte Freiräume erkämpfen müssen und
hat dabei oft Marginalisierung erlebt.
– Tasnim Baghdadi

Tasnim Baghdadi: Wir arbeiten mit Gegenwartskunst, einem stark codierten und oft als elitär wahrgenommenen System. Unsere Vermittlung zielt darauf ab, Kunst zugänglich und erfahrbar zu machen, jenseits rein akademischer Diskurse. Wichtig ist uns die Übersetzung ins Alltägliche und Erfahrbare: Kunst soll nicht nur intellektualisiert, sondern auch immersiv und multisensorisch erlebbar werden. Dafür entwickeln wir gezielt Formate, die diese ganzheitliche Erfahrung ermöglichen und Gegenwartskunst für jede*n zugänglich machen.

Reto Bühler: Und wie macht ihr das? 

Tasnim Baghdadi: Wir setzen auf dialogische Rundgänge, performative Interventionen, kunsttherapeutische Workshops und Vermittlungsformate mit haptischen und gestalterischen Elementen, die Denken, Gestalten und Erleben verbinden. Gleichzeitig haben wir uns strukturell stark verändert. Seit einem Jahr leitet ein Kollektiv aus fünf Personen das Museum. Diese Transformation wirft neue strategische Fragen auf: Was wollen wir als Museum sein? Unsere Identität formt sich noch, doch klar ist, dass das Publikum stärker eingebunden werden soll. Dafür arbeiten wir mit «Third Spaces», zum Beispiel etwa im «Erzählcafé» und in weiteren Begegnungsräumen, in denen persönliche Geschichten und Erfahrungen geteilt werden. Gegenwartskunst ist oft schwer zugänglich, doch gerade ihre politische und gesellschaftliche Relevanz bietet Ansatzpunkte. Ziel ist, bestehendes Potenzial herauszuarbeiten, statt ständig Neues zu erfinden. Der neue freie Eintritt wird die Zusammensetzung unseres Publikums langfristig verändern. Menschen, die sich den Besuch früher nicht leisten konnten, kommen nun tatsächlich ins Museum. Wir sind gespannt zu sehen, inwieweit diese Entwicklung und die erhöhte Zugänglichkeit die inhaltliche Ausrichtung des Museums prägen wird.

Reto Bühler: Unsere drei Museen sind in der Lage, freien Eintritt anzubieten, was die Besuchsschwelle niedrig hält – auch bei schwierigen Themen. Das ist ein möglicher Schritt zu mehr Inklusion und Zugänglichkeit. Auch die längere Dauer der Ausstellungen und möglichst viele kostenlose Veranstaltungen fördern den Zugang und schaffen Anreize für wiederkehrende Besuche.

Tasnim Baghdadi: Eine weitere Herausforderung ist die Barrierefreiheit unseres Gebäudes, die in einigen Aspekten dennoch Hürden schafft. Unsere aktuelle Ausstellung «An der Schwelle des Museums» greift diese Themen auf und entstand in Zusammenarbeit mit verschiedenen Akteur*innen und Organisationen, die im Kreis 5 angesiedelt sind. Die Ausstellung thematisiert politisches Engagement und die Rolle selbstorganisierter Gruppen. Dabei stellen wir Fragen: Wie agieren diese Gruppen im Museum? Wie viel Freiraum geben wir, und wie sehr bleibt die Institution präsent? Es geht um die Balance zwischen Ermächtigung der Besucher*innen und dem gesellschaftlichen Kontext des Museums.

Reto Bühler: Bleibt ihr dafür immer im Museum oder geht ihr auch nach draussen?

Tasnim Baghdadi: Wir gehen auch nach draussen. Wir arbeiten unter anderem an Projekten mit Jugendlichen mit Fluchterfahrung, wo die Schwelle besonders hoch ist. In unseren «Art Fridays»-Ateliers schaffen wir Begegnungsräume, die offen für alle sind – mit und ohne Fluchterfahrung. Das ist essenziell, um Verbindungen zu den lokalen Gemeinschaften herzustellen. 

Reto Bühler: Zusammenarbeit ist eine starke Methode. Wir kooperieren etwa mit dem Literaturhaus, dem Landesmuseum oder dem Mühlerama. Bei der letzten Ausstellung haben wir sogar die Kommunikation abgestimmt – mit einheitlichen Plakaten und Materialien, die einander ergänzten. Das hat unsere Verbindung zur Seefeld-Achse enorm gestärkt. Solche kreativen Ansätze eröffnen neue Wege.

Tasnim Baghdadi: Kooperationen sind nicht nur inhaltlich, sondern auch für die kommunikative Vernetzung entscheidend. Es geht darum, die Stadt als Ganzes zu denken – thematisch und strukturell.

Unsere drei Museen sind in der Lage, freien Eintritt anzubieten, was die Besuchsschwelle
niedrig hält – auch bei schwierigen Themen. Das ist ein möglicher Schritt zu mehr
Inklusion und Zugänglichkeit. 

– Reto Bühler

Maria Tschudi: Bei neuen Projekten denken wir immer in «Gefässen». Das spart Ressourcen, weil wir uns nicht ständig neu erfinden müssen. Gleichzeitig ergeben sich dadurch neue Perspektiven und Begegnungen  auch durch die Zusammenarbeit mit anderen Institutionen, die ihre jeweils ganz eigene Perspektive einbringen können.

Reto Bühler: Es gibt viele Möglichkeiten, Vermittlung weiterzuentwickeln. Auch wenn der Begriff «Führung» heute oft negativ konnotiert ist, bleibt das Prinzip: Ich weiss etwas und teile es mit dir. Es geht um Vermittlung auf Augenhöhe, oft durch das Erzählen von Geschichte, um Themen nahbar zu machen.

Maria Tschudi: Unser Publikum interessiert sich für Inhalte, und trotzdem bleibt es eine Herausforderung, das Publikum zu erreichen. Ich bin für unsere Inhalte oft vor Ort und frage direkt nach: Was interessiert euch, was funktioniert? Dieses unmittelbare Feedback fliesst direkt in die Inhalte ein. Nähe ist hier besonders wichtig.

Tasnim Baghdadi: Oder andersherum: Wir setzen auf «Selbstvertretung», indem wir Menschen aus Communitys direkt einbinden, sie mandatieren oder nach ihren Bedürfnissen befragen. So holen wir Perspektiven ins Team, die uns fehlen, nach dem Prinzip «with us, not about us». Das geht über Inhalte hinaus und wirkt sich direkt auf strukturelle Massnahmen und Entscheidungen aus.

Maria Tschudi: Bei uns ist auch die Frage, wie man Geschichte so erzählt, dass sie persönlich wird und für viele spannend bleibt. Das Persönliche, gelebtes Wissen, ist der Schlüssel.

Reto Bühler: Genau deshalb sind Biografien so wichtig. Geschichte wird am Menschen lebendig. 

Tasnim Baghdadi: Ich kann mit eurem Vermittlungsverständnis sehr mitgehen, das weit über die klassische Definition hinausgeht und Ausstellen, Kuratieren und Vermitteln gesamtheitlicher und in Verschränkung miteinander betrachtet. Letztendlich geht es zukünftig für Museen darum, die verschiedenen Praktiken gleichwertig zu fördern und ihr Potenzial zu erkennen und zu nutzen. Aktuell interessieren wir uns im Museum sehr für die Frage «Wer kann kuratieren und wer vermitteln?» Wir versuchen, sie regelmässig in unserer Arbeit zu adressieren und nicht nur von vorgefertigten Rollen auszugehen. Das öffnet neue Möglichkeiten für das Team, bedeutet aber gleichzeitig, dass Museen die teilweise tiefgreifenden Deutungshoheiten und Hierarchien hinterfragen und aufbrechen müssen, damit das gelingt.

Maria Tschudi: Wir haben das mit dem Jungen Literaturlabor erprobt: Schüler*innen wurden zu Kurator*innen und schrieben ihre Zürich-Geschichten selbst. Diese flossen in die digitale Sammlung meinzüri.ch ein. Zudem blieben der Eröffnung der Dauerausstellung 40 von 100 Vitrinenfächer der sogenannten Schatzkammer im mittleren Raum leer – denn Geschichte ist nie abgeschlossen. Die Ausstellung wächst mit neuen Beiträgen weiter. Diese Beiträge kommen auch in unserem Fall teilweise aus der Bevölkerung selbst. Museen sollten Brückenbauer sein, Bindeglieder zwischen Geschichte und Publikum.

Bei uns ist auch die Frage, wie man Geschichte so erzählt, dass sie persönlich wird und für viele spannend bleibt. Das Persönliche, gelebtes Wissen, ist der Schlüssel.
– Maria Tschudi

Reto Bühler: Da sind wir uns ähnlich – auch wir öffnen Ausstellungsräume, machen sie zugänglich für die Menschen und die Geschichten, die sie zu erzählen haben. Indes bin ich Leiter, aber kein Kurator, höchstens mal Co-Kurator.

Tasnim Baghdadi: Genau. Das zeigt die Stärke kollaborativer Arbeit, sich zu ergänzen. Es geht auch darum, das Konzept einer «fertigen» Ausstellung aufzubrechen. Das Publikum möchte sich einbringen, nicht nur konsumieren. Eine Ausstellung sollte ein lebendiger Organismus sein, offen für Partizipation und Veränderung.

Reto Bühler: Gleichzeitig greifen Museen immer stärker gesamtgesellschaftliche Themen wie Inklusion oder Restitution auf.

Tasnim Baghdadi: Das ist nicht neu, ebenso wenig wie die Vermittlung selbst, die aus den politischen und aktivistischen Bewegungen der 1960er- und 70er-Jahre mit ihrem Ruf nach Demokratisierung und Mitbestimmung hervorgegangen ist. Vermittlung ist eine Brücke zwischen Institution und Öffentlichkeit, ein Fuss drinnen, ein Fuss draussen. Sie bringt Themen von aussen ins Museum und schafft Räume für demokratische Gespräche, auch zu schwierigen Themen. Museen könnten hier mutiger werden. Die Frage ist: Sind Institutionen bereit, den Enthusiasmus für Partizipation wirklich zu tragen? Menschen, die bisher nie oder selten ins Museum kommen, bringen neue Bedürfnisse und Perspektiven mit. Das kann Konflikte und Dissonanzen erzeugen, die Institutionen nicht als Bedrohung, sondern als Chance sehen sollten. Vermittlung ist resilient – sie kann diese Prozesse aushalten und gestalten.

Reto Bühler: Resilienz ist essenziell, besonders wenn man sich politisch positioniert. Wir wollen das auch hier auf dem Friedhof, obwohl es konservative Stimmen gibt, die meinen, auf einem Friedhof dürfe nur bestattet werden. Doch geistige Durchlässigkeit und die Bereitschaft, angreifbar zu sein, sind entscheidend – sonst werden wir zu nichts mehr als gefälligen, überladenen Einrichtungshäusern.

Tasnim Baghdadi: Vielleicht darf es solche Orte aber auch geben. Die Pluralität der Museen ist wichtig. Gerade bei einer Kulturdichte, die so hoch ist wie in Zürich, liegt die Stärke der Vermittlung darin, Vielfalt komplementär zu behandeln. Die Diversität der Stadt ist einmalig und eine riesengrosse Chance.

Weitere Blogbeiträge

  • Museums-Hacks für den perfekten Museumsbesuch

    24.01.2025 / Blog

    Mit diesen Hacks wird der Museumsbesuch garantiert zu einem unvergesslichen Erlebnis!

  • Die unsichtbaren Held*innen der Zürcher Museen

    26.12.2024 / Blog

    Nils Howald (Museum für Gestaltung), Norbert Günther (Musée Visionnaire) und Attila Panczel (Kunsthalle Zürich) sind die technischen Meister hinter den Kulissen. Mit Geschick und Herzblut schaffen sie u. a. Räume, in denen Kunst lebendig wird – und bewältigen dabei jede Herausforderung.

  • Winterkunst und Kulturzauber in den Zürcher Museen

    04.12.2024 / Blog

    Die winterliche Magie der Zürcher Museen entdecken, wo Kunst und Kultur auf besondere Weise verschmelzen. Ausstellungen, interaktive Erlebnisse und kreative Angebote, die die kalte Jahreszeit stimmungsvoll bereichern.

  • Museumstipps für Fotografiefans

    25.11.2024 / Blog

    Die Zürcher Museen bieten Fotografiefans mehr als nur klassische Ausstellungen: Sie zeigen ikonische Werke und experimentelle Ansätze, die die Grenzen der Fotografie neu definieren. Hier werden faszinierende Szenerien vorgestellt, an denen Fotografie in all ihren Facetten im Mittelpunkt steht.

Partnerin