Foyergespräch: Die Aura des Originals im Zeitalter der Digitalisierung

02.07.2025 / Foyergespräch
v. l. n. r.: Isabel Klusman (Leiterin des Naturhistorischen Museums), Denise Tonella (Direktorin des Schweizerischen Nationalmuseums) und Simon Marius Zehnder (Leiter des Pavillon Le Corbusier)

Existiert die «Aura des Originals» im digitalen Zeitalter noch – oder geht sie verloren, wenn das physische Erlebnis eines Kunstwerks oder Kulturguts fehlt? Diese Frage stand im Mittelpunkt des Foyergesprächs im Naturhistorischen Museum der Universität Zürich, bei dem Isabel Klusman (Leiterin des Naturhistorischen Museums), Denise Tonella (Direktorin des Schweizerischen Nationalmuseums) und Simon Marius Zehnder (Leiter des Pavillon Le Corbusier) ihre Perspektiven teilten.

Simon Marius Zehnder: Im Pavillon Le Corbusier spielt die «Aura des Originals» eine zentrale Rolle. Es geht darum, das Gebäude als Hauptexponat zugänglich zu machen, und das ist mit Geruch und haptischem Kontakt verbunden – eine Erfahrung, die digital kaum wiederzugeben ist. Während der Pandemie fragten wir uns, wie wir den Pavillon zugänglich machen können, aber ein digitaler Rundgang konnte das Erlebnis nicht ansatzweise vermitteln. In den Ausstellungen kann es durchaus vorkommen, dass wir nebst analogen auch digitale Exponate zeigen. Im Kontext Le Corbusiers ist das jedoch nicht zwingend notwendig.

Isabel Klusman: Waren diese digitalen Elemente von Anfang an digital, oder wurden sie digitalisiert, weil es dadurch einfacher ist, sie zu zeigen?

Simon Marius Zehnder: Als Beispiel dazu, die aktuelle Ausstellung «Vers une architecture: Reflexionen». Zum rund 100-jährigen Jubiläum von Le Corbusiers Publikation «Vers une architecture» beleuchten wir die gesammelten Texte und fragen uns, wie zeitgenössische Architektur-Studios mittels eines Kommentars einen Rückblick auf die vergangenen 100 Jahre als auch einen Blick in die Zukunft der Architektur gewähren können. Einige Exponate, wie Ruinen der Moderne in Westafrika, wurden digitalisiert, etwa anhand von Filmen oder mittels Fotogrammetrie. Viele Exponate sind auch digital produziert, wie Visualisierungen oder Renderings von möglichen Architektur-Utopien, die Zukunftsbilder zeigen. 

Denise Tonella: Im Schweizerischen Nationalmuseum bewahren wir hunderttausende Objekte, die nicht nur als historische Quelle für die Forschung, sondern auch für die Vermittlung von Schweizer Geschichte wichtig sind. Diese Objekte haben alle eine Aura, wie Walter Benjamin in «Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit» beschrieb. Die Aura des Originals bleibt auch heute wichtig und kann bisher nicht vollständig durch das Digitale ersetzt werden. Digitale Vermittlungsformate sind aber eine wichtige Ergänzung. Sie eröffnen neue Möglichkeiten für Menschen, die nicht ins Museum kommen können oder die vor allem im digitalen Raum unterwegs sind.

Isabel Klusman: Ich sehe das genauso. Im Naturhistorischen Museum bleibt das Original essenziell – es ist manchmal die einzige Möglichkeit, einem Nashorn oder Tier wirklich in die Augen zu schauen. Aber Digitalisierung ist eine wichtige Ergänzung. Zum Beispiel bei Insekten: Wenn wir diese digitalisieren und vergrössern, entdecken wir Details, die sonst nur mit dem Mikroskop sichtbar sind. In der geplanten Ausstellung «Museuem of the Future» mit dem Museum für Gestaltung zeigen wir in einem der 17 digitalen Experimente digitalisierte Insekten, die Besucher*innen vergrössern oder zum Fliegen bringen können. Das bietet den Besucher*innen neue Perspektiven. 

Simon Marius Zehnder: Ein spannendes Thema ist die Konservierung digitaler Exponate. Wie speichert man sie und stellt sicher, dass sie in 15, 50 oder 100 Jahren noch zugänglich sind? Digitale Exponate werden Teil jeder Sammlung. Es ist eine Herausforderung und Chance, eine einheitliche Sprache und Standards zu finden und digitale Exponate genauso wie physische Objekte zwischen den Häusern wandern zu lassen.

Denise Tonella: Wir starten gerade ein Projekt zur Konservierung digitaler Objekte. Eine zentrale Frage ist, wie wir das digitale Kulturerbe bewahren und welche Bestände wir sammeln. Wie stellen wir sicher, dass zukünftige Generationen unsere digitale Welt verstehen? Neben einem erweiterten Sammlungskonzept für das digitale Kulturerbe könnten auch Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen helfen, Stimmen für die Zukunft zu sammeln. Und auch beim digitalen Kulturerbe stellt sich die Frage der Aura. Das, was heute noch keine Aura zu haben scheint, könnte in Zukunft eine starke Ausstrahlung haben. Genauso wie es anfänglich mit der Fotografie war, die nicht mit einem Gemälde vergleichbar schien. Heute wissen wir, dass auch Fotografien eine eigene Ausstrahlungskraft, eine eigene Aura haben.

«Digitale Exponate werden Teil jeder Sammlung. Es ist eine Herausforderung und Chance, eine einheitliche Sprache und Standards zu finden, aber das Original bleibt unersetzlich.»
– Simon Marius Zehnder

Simon Marius Zehnder: Ich denke auch an die Wertebewegungen, wie bei Gen Z oder der Generation Alpha, die immer weniger Ballast mit sich tragen wollen – sowohl im persönlichen Raum als auch in anderen Bereichen. Es geht darum, Besitz zu reduzieren und nicht mehr Unmengen an Dingen mit sich zu schleppen. Der Gedanke des «Sesshaftseins» – an einem Ort zu sein, aber keine grossen Sammlungen zu besitzen – wird immer stärker. Durch Digitalisierung und das Reduzieren des «Kosmos», den man mit sich trägt, wird man flexibler. Das passt sehr gut zum Zeitgeist.

Isabel Klusman: Ich denke, die Sammlungen werden immer eine Rolle spielen – auch wenn man nicht weiss, wie sie in 100 Jahren präsentiert werden. Vielleicht wird man dann sagen, dass man sie nicht mehr auf die gleiche Weise braucht, aber im Moment bleiben sie für Museen wichtig. Vielleicht wird man sich mehr auf digitale Bestände konzentrieren, aber ich glaube, die Sammlungen werden ihren ursprünglichen Wert nie ganz verlieren.

Simon Marius Zehnder: Hoffentlich. Bei Museumsbesuchen bevorzuge ich Originalexponate, die ich wahrnehmen kann. Auch wenn man sie nicht anfassen darf, erkennt man, dass es ein Original ist und keine Reproduktion. Im Pavillon wäre es ideal, den Raum mit Originalen zu füllen, wie es Heidi Weber, die Bauherrin, tat. Sie zeigte Le Corbusier in Originalen, sogar auf dem Dach stellte sie Skulpturen auf. Heute wäre das aus konservatorischen Gründen undenkbar, aber damals war es die Möglichkeit der Zeit. Diese Exponate haben seither eine enorme Wertsteigerung durchlaufen.

«Ich denke, die Sammlungen werden immer eine Rolle spielen – auch wenn man nicht weiss,
wie sie in 100 Jahren präsentiert werden.»
– Isabel Klusman

Denise Tonella: Für mich ist es keine Frage von entweder/oder. Als Historikerin sehe ich die materielle Kultur als Quelle, die uns die Geschichte von gestern erzählt und wie ein Fenster auf die Vergangenheit wirkt. Auch wenn die digitale Welt uns immer mehr prägt und Teil von unserem Leben ist, verlieren die Objekte nicht an Wert. Im Gegenteil: Was ich an kulturhistorischen Museen spannend finde, ist, dass sie nie aufhören, Geschichten zu erzählen. Ein Beispiel ist das Fotoalbum von Karl Krüsi, einem Appenzeller, der im 19. Jahrhundert ausgewandert ist. Bis vor einigen Jahren haben wir uns auf seine erfolgreiche Auswanderung konzentriert, heute wissen wir jedoch, dass seine Geschichte auch im Kontext kolonialer Verflechtungen angeschaut werden muss. Je nachdem, welche Fragen wir an die Zeugnisse der Vergangenheit stellen, entstehen neue Geschichten, womit sie neue Perspektiven eröffnen.

Isabel Klusman: Im Naturhistorischen Museum ist die Digitalisierung besonders wichtig, wenn es um ausgestorbene Lebewesen geht. Oft weiss man nicht genau, wie diese Tiere ausgesehen haben, aber mit digitaler Unterstützung kann man zum Beispiel Dinosaurier mit Federn, Flügeln oder einem Kamm darstellen. Die Digitalisierung erweckt diese Objekte, die sonst schwer vorstellbar wären, zum Leben.

Simon Marius Zehnder: Das spüre ich auch, wenn ich bei euch hereinkomme. Das Historische wird ins Jetzt überführt: Was vergangen ist, wird in der Gegenwart verhandelt. Digitalisierte Exponate bieten spannende Ansätze. Ich finde es faszinierend, weil es fast wie bei «Jurassic Park» ist: Damals war es schon beeindruckend, wie Dinosaurier im Film lebendig wurden – und heute ist das noch viel präziser und persönlich erlebbar.

Isabel Klusman: Früher mussten wir die Knochen und die Becken, die Skelette, abgiessen, jetzt machen wir das mit einem 3D-Drucker. Das ist unglaublich – so etwas kannte man früher nicht. Wir haben auch schon einen kleineren 3D-Drucker. Aber vor 20 Jahren hätte man vielleicht noch gesagt: «Ein 3D-Drucker, schön wär es!» Die technologische Entwicklung ist ein exponentieller Prozess mit sehr schneller Innovationsfolge.

Denise Tonella: Man sieht es auch heute mit KI – die muss noch mit Vorsicht betrachtet werden. Wenn alte Zivilisationen wie Ägypten visualisiert werden, macht die KI auf Details aufmerksam, wie etwa, dass Tempel in Griechenland ursprünglich rot waren und nicht weiss, wie oft angenommen. Was du, Simon, zum Pavillon Le Corbusier gesagt hast, fand ich spannend: Selbst wenn die virtuelle Realität sich verbessert, ist es etwas anderes, wirklich vor Ort zu sein, mit anderen Menschen. Das lässt sich schwer vermitteln. Das Subjekt und die Räume bleiben entscheidend. Wenn wir nach Pompeji gehen oder alte Monumente besuchen, beeindruckt uns das immer. Eine Kathedrale benötigt keine VR-Brille – sie ist an sich sehr beeindruckend und wird weiterhin wichtig bleiben.

«Dieser Wunsch nach Authentizität und einem Raum ohne digitale Ablenkungen zeigt,
wie wertvoll das Physische im digitalen Zeitalter bleibt.»
– Denise Tonella 

Isabel Klusman: Glaubst du, dass die übernächste Generation, die in einer digitalen Welt aufgewachsen ist, trotzdem noch einen grossen Wert auf das Physische legen wird? Ich meine, ihr gehört ja noch zu einer jüngeren Generation als ich, aber wie siehst du das in Bezug auf die Generation, die nach euch kommt?

Denise Tonella: Wir entwickeln ein neues Veranstaltungsformat für junge Erwachsene, das von ihnen selbst konzipiert wird. Es ist das schwierigste Publikum, besonders für ein kulturhistorisches Museum. Wir dachten, sie würden digitale Elemente bevorzugen, aber sie wollen ein komplett analoges Format und echte Objekte sehen. Sie hätten sonst schon genug Digitales in ihrem Leben und wollen nicht ins Museum, um auch dort in der digitalen Welt zu verweilen. Sie suchen Erlebnisse, die sie nicht anderswo finden können. Dieser Wunsch nach Authentizität und einem Raum ohne digitale Ablenkungen zeigt, wie wertvoll das Physische im digitalen Zeitalter bleibt.

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